Das Mysterium des Nikolaus von Myra

Das große, bauchige Schiff, das im Auftrag des Kaisers unterwegs ist, um Getreide nach Byzanz zu bringen, rollt schwerfällig in der unruhigen See.
Den beiden römischen Kaufleuten, die nach Myra wollen, geht es gar nicht gut. Sie sitzen im Laderaum gleich hinter dem Bugspriet auf ihren schweren Truhen und behüten ihre Schätze. Mit Schmuckstücken handeln sie, mit goldglänzenden Ringen, Ohrgehängen, Medaillons und Spangen. Nur der Kapitän weiß, was die Händler in ihren Kisten bergen.

Besorgt schaut der Kapitän in den Himmel. Seit gestern wird die Sonne von dichten Wolken verdeckt. Nur langsam kommen sie voran, immer wieder drängt der starke Wind sie vom Kurs ab. Als es dämmert, verstärkt sich der Wind zum Sturm. Vorsorglich werden die Segel eingeholt und die Mannschaft muss zu den Rudern greifen. Der Kapitän verweigert seiner Besatzung den abendlichen Wein.

Als mitten in der Nacht die Sturmglocke die Matrosen weckt, wütet ein Orkan. Eilig vertäuen die Männer die Fracht doppelt so fest und beginnen, das Wasser aus dem Laderaum zu schöpfen. Die beiden Händler haben um zusätzliche Seile gebeten. Nun, als alles gesichert ist, kauern sie ängstlich hinter den Kisten, den Kopf tief zwischen ihre Knie gesenkt.

Der Morgen naht, doch es wird kaum heller. In dunklem Blaugrau türmen sich Wellen und Wolken, kaum sind sie voneinander zu unterscheiden, und der Horizont scheint von der See verschlungen worden zu sein.
Die Mannschaft ist entkräftet. Immer häufiger wechseln sich die müden Matrosen an den Riemen und den Eimern ab. Die wenigen, die nicht rudern oder schöpfen müssen, binden sich mit Tauen an den Mast, um für ein paar Augenblicke Schlaf oder wenigstens Ruhe zu finden.

Rudern, schöpfen, warten, beten. Mehr können sie nicht tun.

Als das Blaugrau zu tiefem Schwarz dunkelt, zieht sich der Kapitän unter Deck zurück. Verzweifelt kniet er vor seiner Reisetruhe nieder und nimmt die Halskette mit dem Kreuzanhänger heraus, die er als Fahrgeld von den Kaufleuten erhalten hat.

„Heiliger Nikolaus von Myra, Wohltäter der Seefahrer“, fleht er inbrünstig, „Rette meine Männer, rette das Schiff des Kaisers, rette uns!“ Die Kälte des Meerwassers, das seine Beine umspült, nimmt er nicht mehr wahr.
Undeutliche Rufe holen ihn wieder an Deck. Inmitten der Besatzung steht ein fremder großgewachsener Mann mit einem wilden Bart und zerzaustem Haar, dessen Augen in der Dunkelheit glänzen.

„Holt die Riemen ein und setzt die Segel! Und übergebt mir das Steuer, Kapitän!“, fordert er mit tiefer, klarer Stimme.
Gebannt schauen die Matrosen und die Händler auf den Mann, dessen Kopf von einem hellen, warmen Leuchten umgeben ist. Der Kapitän spürt verwirrt, dass er dem Fremden vertraut, obwohl dieser so unerklärlich, wie dem Meer entstiegen, auf dem Schiff aufgetaucht ist. Bereitwillig übergibt er ihm das Kommando.

In den nächsten Stunden arbeiten die Seeleute wie besessen; all ihre Kraft scheint zurückgekehrt zu sein. Die Befehle des Fremden ermutigen und beruhigen alle… Ja, tatsächlich… Sogar der Sturm erliegt dieser eindringlichen Stimme und flaut nach und nach ab.

Nach drei Tagen ist die schwere See zu einem gleichbleibenden, mäßigen Schaukeln geworden. Das Schiff schneidet genau auf Kurs schnell durch die Wellen. Am Steuer steht der Fremde, wach und stark, und nickt lächelnd dem Kapitän zu. Als dieser auf den Fremden zugeht, um ihm für seinen Edelmut zu danken, stolpert er über ein Tau – und als er aufblickt, ist der Fremde verschwunden.

Einige Zeit später landet das Schiff in Myra an, mit voller Besatzung und vollständiger Ladung. Erleichtert eilen die beiden Kaufleute mit ihren Schatzkisten von Bord, um der Kirche von Myra einige Schmuckstücke zu stiften, zum Dank für ihre Rettung. Sie müssen sich durch die vielen Menschen drängen, die sich am Hafen versammelt haben. „Gebt uns von eurem Korn!“, betteln sie, „wir hungern seit Wochen! Schwere Stürme haben unsere Ernte verwüstet!“

Dem Kapitän ist nicht wohl dabei, als er die Leute zurückweist. Das Getreide gehört dem Kaiser, und er hat eine schwere Strafe zu erwarten, wenn auch nur wenige Fässer der Ladung fehlen. Doch andererseits dauern ihn die Menschen. Was ist zu tun?

Plötzlich teilt sich die Menschenmenge und ein stattlicher, bärtiger Mann im kirchlichen Ornat und mit Bischofsmitra auf dem lockigen Haar tritt hervor. „Der Bischof Nikolaus von Myra bittet euch um die Hälfte des kaiserlichen Getreides für die Hungernden dieser Stadt! Ich verspreche euch, ihr werdet dadurch keinen Schaden haben!“, ruft er – und erstaunt erkennt der Kapitän den Fremden, der ihnen während des Sturms zur Seite gestanden hat, und begreift, dass niemand sonst als der Heilige Nikolaus für ihre Rettung verantwortlich ist. Ergriffen und dankbar sinkt er, zusammen mit all seinen Seeleuten, auf die Knie und verschenkt ohne zu zögern die Hälfte des Korns an die Einwohner von Myra.

Von den Matrosen wird die wundersame Rettung ihres Schiffs durch den Heiligen Nikolaus in den Tavernen der Stadt verbreitet. Niemand der Bewohner scheint erstaunt; die Güte und Mildtätigkeit ihres Bischofs ist ihnen bekannt.

Als das Schiff einen Tag früher als berechnet in Byzanz ankommt, weil es wegen der leichteren Ladung schneller segeln konnte, hat sich die Kunde von der Großzügigkeit des Kapitäns bereits herumgesprochen. Der kaiserliche Buchführer verlangt streng die sofortige Zählung der Getreidefässer gleich während des Ausladens. Schweigend schleppen die Seeleute Fass um Fass von Bord. Doch so oft sie auch zurückgehen – es stehen immer noch Fässer im Laderaum. Dabei haben sie bereits fast die doppelte Anzahl an Fässern ausgeladen. Wie ist das möglich? Am Ende zählt der Buchführer exakt die vereinbarte Menge Getreide, das in den Fässern nicht die geringste Spur von Schimmel zeigt, sondern wunderbar goldgelb, trocken und frisch duftend durch seine Finger rieselt.

Die Seefahrer werden reich entlohnt und mit neuen Aufträgen über die Meere geschickt. Nach zwei Jahren führt ihr Kurs sie wieder nach Myra. Wie erstaunt sind sie, als sie die aufgeblühte, reich glänzende Stadt besuchen und gesunde, fröhliche Menschen treffen. Fürstlich werden sie empfangen und erfahren, dass das Getreide, das sie damals den Bewohnern überließen, nicht nur über den Winter reichte, sondern sogar über den nächsten und darüber hinaus noch für zwei Aussaaten.

Demütig und bewegt angesichts dieses dritten Wunders spendet der Kapitän der Kirche von Myra einiges von seinem Gold, bevor er wieder zur See fährt. Und nie mehr widerfährt ihm ein Unglück.

Text und Fotos: Steffi Herrmann / Klunkerfisch

In den nächsten Stunden arbeiten die Seeleute wie besessen; all ihre Kraft scheint zurückgekehrt zu sein. Die Befehle des Fremden ermutigen und beruhigen alle… Ja, tatsächlich… Sogar der Sturm erliegt dieser eindringlichen Stimme und flaut nach und nach ab.

Nach drei Tagen ist die schwere See zu einem gleichbleibenden, mäßigen Schaukeln geworden. Das Schiff schneidet genau auf Kurs schnell durch die Wellen. Am Steuer steht der Fremde, wach und stark, und nickt lächelnd dem Kapitän zu. Als dieser auf den Fremden zugeht, um ihm für seinen Edelmut zu danken, stolpert er über ein Tau – und als er aufblickt, ist der Fremde verschwunden.

Einige Zeit später landet das Schiff in Myra an, mit voller Besatzung und vollständiger Ladung. Erleichtert eilen die beiden Kaufleute mit ihren Schatzkisten von Bord, um der Kirche von Myra einige Schmuckstücke zu stiften, zum Dank für ihre Rettung. Sie müssen sich durch die vielen Menschen drängen, die sich am Hafen versammelt haben. „Gebt uns von eurem Korn!“, betteln sie, „wir hungern seit Wochen! Schwere Stürme haben unsere Ernte verwüstet!“

Dem Kapitän ist nicht wohl dabei, als er die Leute zurückweist. Das Getreide gehört dem Kaiser, und er hat eine schwere Strafe zu erwarten, wenn auch nur wenige Fässer der Ladung fehlen. Doch andererseits dauern ihn die Menschen. Was ist zu tun?

Plötzlich teilt sich die Menschenmenge und ein stattlicher, bärtiger Mann im kirchlichen Ornat und mit Bischofsmitra auf dem lockigen Haar tritt hervor. „Der Bischof Nikolaus von Myra bittet euch um die Hälfte des kaiserlichen Getreides für die Hungernden dieser Stadt! Ich verspreche euch, ihr werdet dadurch keinen Schaden haben!“, ruft er – und erstaunt erkennt der Kapitän den Fremden, der ihnen während des Sturms zur Seite gestanden hat, und begreift, dass niemand sonst als der Heilige Nikolaus für ihre Rettung verantwortlich ist. Ergriffen und dankbar sinkt er, zusammen mit all seinen Seeleuten, auf die Knie und verschenkt ohne zu zögern die Hälfte des Korns an die Einwohner von Myra.

Von den Matrosen wird die wundersame Rettung ihres Schiffs durch den Heiligen Nikolaus in den Tavernen der Stadt verbreitet. Niemand der Bewohner scheint erstaunt; die Güte und Mildtätigkeit ihres Bischofs ist ihnen bekannt.

Als das Schiff einen Tag früher als berechnet in Byzanz ankommt, weil es wegen der leichteren Ladung schneller segeln konnte, hat sich die Kunde von der Großzügigkeit des Kapitäns bereits herumgesprochen. Der kaiserliche Buchführer verlangt streng die sofortige Zählung der Getreidefässer gleich während des Ausladens. Schweigend schleppen die Seeleute Fass um Fass von Bord. Doch so oft sie auch zurückgehen – es stehen immer noch Fässer im Laderaum. Dabei haben sie bereits fast die doppelte Anzahl an Fässern ausgeladen. Wie ist das möglich? Am Ende zählt der Buchführer exakt die vereinbarte Menge Getreide, das in den Fässern nicht die geringste Spur von Schimmel zeigt, sondern wunderbar goldgelb, trocken und frisch duftend durch seine Finger rieselt.

Die Seefahrer werden reich entlohnt und mit neuen Aufträgen über die Meere geschickt. Nach zwei Jahren führt ihr Kurs sie wieder nach Myra. Wie erstaunt sind sie, als sie die aufgeblühte, reich glänzende Stadt besuchen und gesunde, fröhliche Menschen treffen. Fürstlich werden sie empfangen und erfahren, dass das Getreide, das sie damals den Bewohnern überließen, nicht nur über den Winter reichte, sondern sogar über den nächsten und darüber hinaus noch für zwei Aussaaten.

Demütig und bewegt angesichts dieses dritten Wunders spendet der Kapitän der Kirche von Myra einiges von seinem Gold, bevor er wieder zur See fährt. Und nie mehr widerfährt ihm ein Unglück.

Text und Fotos: Steffi Herrmann / Klunkerfisch